Zeitgeschichtliche Veranstaltungsreihe - Ministerpräsident a.D. Kurt Beck sprach zu 75 Jahre Grundgesetz und Herbert Wehner
2009 konnte man in Deutschland auf „60 Jahre Grundgesetz“ zurückblicken. Seinerzeit startete Bürgermeister Thomas Groll die zeitgeschichtliche Veranstaltungsreihe der Stadt Neustadt (Hessen) zur Erinnerung an bedeutsame Ereignisse und Persönlichkeiten der deutschen Geschichte.
2024, fünfzehn Jahre später, kann man nun „75 Jahre Grundgesetz“ feiern und diesen „lebendigen Geschichtsunterricht“ mit namhaften Referenten aus Politik, Gesellschaft und Sport gibt es immer noch. Verursachte das Corona-Virus auch eine Zwangspause von 2020-2022 so erfreut sich diese Veranstaltungsform immer noch großer Beliebtheit in Neustadt und Umgebung.
So fanden auch am 16. April 2024 wieder über 120 interessierte Damen und Herren den Weg in das Kultur- und Bürgerzentrum. In diesem Jahr beschäftigt man sich an fünf Terminen mit dem Verfassungsjubiläum und bedeutsamen Gründerpersönlichkeiten der Bundesrepublik.
Und nach Bundestagspräsidentin Bärbel Bas war es dem Bürgermeister gelungen, mit dem langjährigen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck wieder einen prominenten Gast nach Neustadt zu holen. Ihm werden im Laufe des Jahres noch Hessens ehemaliger Ministerpräsident Roland Koch, die langjährige Bundestagsabgeordnete und Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und der ehemalige bayerische Staatsminister Peter Gauweiler folgen.
Der Sozialdemokrat Beck, Jahrgang 1949, absolvierte zunächst eine Ausbildung als Elektromechaniker und erwarb dann auf dem zweiten Bildungsweg die mittlere Reife.
Kurt Beck war Ortsbürgermeister, Kreistagsabgeordneter, Landtagsabgeordneter, Ministerpräsident seines Heimatlandes von 1994-2013, Bundesvorsitzender der SPD von 2006-2008, Vizepräsident der sozialistischen Internationalen und Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung. Ein erfülltes politisches Leben eines Mannes, der nie die Bodenhaftung verloren hat und sich gerade deshalb immer hoher Sympathiewerte erfreuen konnte.
Nach der musikalischen Eröffnung durch das „Trio Semplice“, inzwischen regelmäßig vier Musiker, begrüßte Thomas Groll alle Anwesenden und hieß besonders den Kreistagsvorsitzenden Detlef Ruffert, Staatsminister a. D. Dr. Christean Wagner, Schwalmstadts Bürgermeister Tobias Kreuter, Freiherr Albert-Frederick von Dörnberg und die Ehrenbürger der Nachbarstädte Stadtallendorf und Kirchhain, Manfred Vollmer und Willibald Preis, willkommen.
Er verwies in seinen einleitenden Worten darauf, dass dies bereits die 39. zeitgeschichtliche Veranstaltung sei und man dazu in Neustadt u.a. acht ehemalige bzw. amtierende Ministerpräsidenten, sieben ehemalige Bundesminister und mit Horst Eckel einen Fußballweltmeister habe begrüßen können.
Kurz ging der Bürgermeister auch noch auf Herbert Wehner (1906-1990) ein. Dieser widersprüchliche Politiker stand im Mittelpunkt des Nachmittags. Zunächst Kommunist wurde er nach dem II. Weltkrieg einer der führenden Männer der deutschen Sozialdemokratie, war Fraktionsvorsitzender, stellvertretender Parteivorsitzender und Bundesminister und gestaltete drei Jahrzehnte der bundesdeutschen Politik entscheidend mit.
„Diese Veranstaltungsreihe macht der Neustadt große Ehre. Danke dem Bürgermeister für dieses Engagement. 75 Jahre Grundgesetz gehören gewürdigt und die Gründerpersönlichkeiten unseres Staates haben es allemal verdient, dass man an sie erinnert“, mit diesen Worten begann Kurt Beck seinen eindrucksvollen Vortrag, bei dem er fast vierzig Minuten frei sprach.
Beck verstand es dabei, nie den roten Faden zu verlieren, obwohl er zwischen Herbert Wehner, dem Verfassungsjubiläum, grundsätzlichen Ausführungen zur Politik und dem aktuellen (Welt-)Geschehen hin und her wechselte.
Im Anschluss hörte man viel Lob über diese Rede und mehr als einmal die Feststellung „das war ein Politprofi“.
„Menschen gestalten Politik. Menschen mit ihren Stärken und Schwächen sowie ihren Widersprüchen. Menschen wie Herbert Wehner. Es gibt fürwahr einfachere Persönlichkeiten als den Zuchtmeister der SPD“, so der frühere Spitzenpolitiker bei seiner Ansprache.
Wehner habe die Kaiserzeit als Kind erlebt, sei in der Weimarer Republik Kommunist geworden, während der NS-Herrschaft zunächst in die Sowjetunion und dann nach Schweden emigriert, um in der Bundesrepublik neu anzufangen und deren Werden mitzugestalten.
„Herbert Wehner musste viele bittere Erfahrungen machen. Er hat in Moskau Genossen verraten, um selbst am Leben zu bleiben. Aus dieser Zeit hat er seine Lehren gezogen. Später war er es, der 1959 mit dem Godesberger Programm der SPD den Weg zur Volkspartei gewiesen hat“, stellte Kurt Beck fest.
Der ehemalige Bundesvorsitzende der Sozialdemokraten bekannte sich ausdrücklich zu Volksparteien: „Die Union und die Sozialdemokratie haben über Jahrzehnte hinweg unterschiedlichste politische Strömungen integriert. Sie haben für Stabilität gesorgt. Eine Zersplitterung der politischen Landschaft wie wir sie jetzt erleben, schwächt die Demokratie und stärkt die Ränder. Das ist gefährlich. Eine Entwicklung, wie wir sie schon in der Weimarer Republik erlebt haben. Wie das 1933 endete wissen wir.“
Kurt Beck mahnte dazu, die Wähler radikaler Parteien nicht aufzugeben. Man müsse stattdessen alles tun, um sie wieder für die Demokratie zu gewinnen. Hier sah er im übrigen Parallelen zur Entwicklung des jungen Herbert Wehner.
„Onkel Herbert“ habe stets aktiv Deutschland-Politik betrieben. Dass der 17. Juni in Erinnerung an den Volksaufstand 1953 in der DDR zum nationalen Gedenktag geworden sei, war eine Idee Wehners. Dieser habe auch mit den Machthabern im anderen Teil Deutschlands gesprochen, nicht immer zur Freude des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt.
Trotz Brüchen und Widersprüchen gehöre für ihn Herbert Wehner zu den prägenden Gestalten der alten Bundesrepublik, so Kurt Beck.
„Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Es kommt auf uns alle und unser Engagement an. Hierzu gehört nicht nur der Einsatz in und für die Politik, sondern auch in den Vereinen oder anderen gesellschaftlichen Bereichen. Es liegt an uns, wie die Zukunft wird“, schloss der ehemalige Ministerpräsident seine eindrucksvolle Rede, für die er zurecht langanhaltenden Beifall der Anwesenden erhielt.
Foto: Stadt Neustadt (Hessen)