Stellungnahme des Bürgermeisters zu den Kommentierungen bei „Facebook“ infolge eines Ladendiebstahls mit Sachbeschädigung am 30. August 2018 in einem Neustädter Supermarkt.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
die Geschehnisse der letzten Wochen in Deutschland im Allgemeinen und der Ladendiebstahl mit Sachbeschädigung in Neustadt am 30. August und die nachfolgenden Kommentierungen der Tat bei „Facebook“ im Besonderen geben mir Anlass, mich auf diesem Wege an Sie zu wenden.
Viele Menschen in unserem Land und damit natürlich auch in unserer kleinen Stadt beschäftigt gegenwärtig die Flüchtlingsthematik sehr. Dies belegen Umfragen und ich weiß es aus einer Vielzahl von Gesprächen. Man stellt sich zahlreiche Fragen, ist zum Teil verunsichert und weiß nicht so recht, wie man die aktuelle Situation bewerten soll.
Dies ist in der Tat schwierig. Nehmen wir nur einmal die Zeitungen des Wochenendes. Dort heißt es zum einen, dass die Stimmung im Lande schlechter sei als die tatsächliche Lage. Die Wirtschaft boome, der Arbeitsmarkt kenne fast nur positive Nachrichten und die Kriminalität sei 2017 auf den tiefsten Stand seit 1992 zurückgegangen. Aussagen, die belegbar sind. Zum anderen lesen wir aber auch, dass tiefe Risse wie nie durch unsere Gesellschaft gingen. Eine Tatsache, die nicht zu leugnen ist.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat daher recht, wenn er bereits am 3. Oktober 2017 davon sprach, dass die Debatte über Flüchtlinge und Migranten Deutschland aufwühle und Folge einer in Unruhe geratenen Welt sei.
Viele Menschen erwarten deshalb orientierende Worte der Regierenden und entsprechendes Handeln. Zu Recht, wie auch ich finde. Es müssen endlich überzeugende Konzepte zur Integration und eine abgestimmte europäische Flüchtlingspolitik auf den Tisch. Es gibt gute Ansätze, aber keine Gesamtkonzeption. Die Fehler der vergangenen Jahrzehnte bei der Integration von Migranten und Zuwanderern dürfen nicht wiederholt werden.
Zugleich muss man aber auch vor dem Hintergrund der aktuellen Geschehnisse eine umfassende Betrachtung des Sachverhalts vornehmen.
Schauen wir vor aufgrund der aktuellen Geschehnisse in Chemnitz einmal exemplarisch nach Sachsen. Dort gingen bereits im Januar 2015 – also ein halbes Jahr vor den immens hohen Zugangszahlen an Flüchtlingen – 25.000 Menschen bei einer Pegida-Demonstration auf die Straße. Die genauen Ursachen dafür mögen Politikforscher bewerten. Fakt ist aber, dass es in den neuen Bundesländern auch fast dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung viel Unzufriedenheit und kein fest gefügtes Parteienspektrum gibt.
Diejenigen, die diese Demonstrationen auf den Weg bringen, die für den ideologischen Unterbau sorgen, wollen wohl nicht nur in meinen Augen ein anderes Land. Das will ich nicht. Mein Land ist ein Deutschland, das auf dem Fundament des Grundgesetzes ruht, das tolerant ist, aber auch klar formuliert, wo es Grenzen gibt. Und das gilt natürlich für alle, die hier leben.
Wenn Menschen erkennbar unzufrieden sind, muss man sich der Frage nach dem „Warum?“ annehmen. Dabei kann es in einer Demokratie, und nur in einer Demokratie, sein, dass man nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommt, dass es auch nach dem Austausch der Argumente unterschiedliche Auffassungen gibt. Dann entscheidet bei Wahlen die Mehrheit über den weiteren Kurs. So ist es seit 1949 in unserem Land und wir sind gut damit gefahren.
In meinen Augen ist es angezeigt, ohne Emotionen, sondern rational eine Bewertung der gegenwärtigen Situation vorzunehmen – im Großen, wie im Kleinen.
Erinnern Sie sich noch an das Jahr 2015? Damals startete die BILD-Zeitung die Kampagne „Refuges welcome – Wir helfen!“. Viele, auch in unserer Kommune, fühlten sich davon angesprochen und engagierten sich ehrenamtlich für Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien oder Afghanistan.
Heute, drei Jahre später, liest man von dieser Aktion der auflagenstärksten Zeitung Deutschlands nichts mehr. Die Euphorie scheint der Ernüchterung gewichen. Stattdessen erscheinen immer wieder Berichte über Straftaten, die von Flüchtlingen begangen wurden. Zweifellos zu verurteilende Taten, die etliche eine kritische oder ablehnende Haltung gegenüber Geflüchteten einnehmen lassen.
Bereits 2016 schrieb ich an dieser Stelle davon, dass man sich bei allen Themen, und damit natürlich auch bei der Flüchtlingsfrage, vor extremen Bewertungen und Verhaltensweisen hüten solle. Nur eine rosarote Brille aufzusetzen, ist genauso falsch, wie alles von vornherein negativ zu sehen. Nicht jeder Flüchtling ist ein bemitleidenswertes Opfer, nicht jeder Flüchtling ist ein potentieller Straftäter. Ebenso wie bei uns Einheimischen gibt es auch hier nicht nur schwarz oder weiß. Es ist wie immer im Leben: Auf die objektiven und belegbaren Fakten kommt es an.
Der langjährige Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach hat sich in der letzten Woche zu den aktuellen Entwicklungen geäußert und Sätze gesagt, die ich voll und ganz teile:
„Die unübersehbaren Probleme in der Flüchtlingspolitik seit September 2015 dürfen nicht ignoriert oder gar geleugnet werden. … Die Sicherheitslage in Deutschland hat sich verändert. Das muss man offen aussprechen dürfen. … Völlig unabhängig, ob wir die Flüchtlingspolitik begrüßen oder kritisieren, wir beurteilen Menschen nicht nach Herkunft, Hautfarbe oder Religion, sondern nach Auftreten, Verhalten und Charakter. … So wichtig das Recht auf Demonstrationsfreiheit ist, es legitimiert unter keinem Gesichtspunkt die Ausübung von Gewalt. … In Zeiten von Facebook und Co. ist es kinderleicht, in kürzester Zeit Menschen zu informieren und zu desinformieren, zu instrumentalisieren und nicht zuletzt zu emotionalisieren.“
Erinnern wir uns nochmals daran, was seit 2015 alles in Neustadt passiert ist.
Vor über drei Jahren entstand ohne unser Zutun eine Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in der ehemaligen Ernst-Moritz-Arndt-Kaserne. Zum Jahreswechsel 2015/2016 waren dort über tausendeinhundert Menschen untergebracht. Heute sind es weniger als dreihundert. Wir haben im Übrigen immer darauf hingewiesen, dass 1.100 Flüchtlinge für eine Kommune mit 6.000 Einwohnern in der Kernstadt zu viel sind. Die Landesregierung hat darauf – unabhängig vom allgemeinen Rückgang der Zugangszahlen seit Mitte 2016 – reagiert.
Die Kommune und deren Bürgermeister hatten weder Einfluss auf die Schaffung dieser Einrichtung, noch können sie auf deren Belegung einwirken.
Gleichwohl pflegen wir engen Kontakt zu den verantwortlichen Stellen des Landes und der Einrichtungsleitung. Nur im Miteinander ist es nämlich möglich, Entwicklungen entgegenzutreten, die wir vor Ort nicht gutheißen können.
Aus diesem Grunde stehen wir auch im steten Kontakt mit der Polizeidirektion Marburg/L. und der Polizeistation Stadtallendorf. Für uns gilt das Gewaltmonopol des Staates. Wenn nun in den Sozialen Medien gar von „Selbstjustiz“ die Rede ist, dann gilt es dem offensiv entgegenzutreten. Wir sollten auch keine Unruhe von außen in die Kommune tragen lassen.
Auch halte ich aktuell geäußerte Kritik an der Polizei für fehl am Platze. Hier wird gute Arbeit geleistet. Getan, was möglich ist.
Natürlich gab und gibt es auch in Neustadt Fehlverhalten wie Ladendiebstähle, Körperverletzung oder massive Ruhestörungen von Geflüchteten. Dies verschweigt keiner und muss ebenso wie von Einheimischen begangene Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten geahndet werden. Hier gilt aber noch im Besonderen, wer die Gesetze und Werteordnung unseres Landes als Hinzugekommener nicht zu akzeptieren vermag, der muss mit Konsequenzen bis hin zur Abschiebung rechnen.
Aber gab es in den vergangenen drei Jahren nicht auch Positives, was wir in der gegenwärtigen politischen Stimmungslage nicht vergessen sollten?
Eine funktionierende Gemeinwesenarbeit wurde aufgebaut. Ein Treffpunkt für Geflüchtete und Einheimische entstand, dort können übrigens auch (Ur-)Neustädter ebenso wie bei mir mit ihren Fragen vorstellig werden. Viele Frauen und Männer engagieren sich ehrenamtlich und helfen mit, Geflüchtete in unsere Gesellschaft zu integrieren. Kinder aus Flüchtlingsfamilien besuchen Kindergärten und Schulen. Sie lernen schnell Deutsch und fanden gleichaltrige Spielkameraden. Viele der in Neustadt ansässigen Flüchtlinge haben bereits Arbeit gefunden und wollen unsere Mitbürger sein.
Natürlich ist klar, dass eine Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) viele Besonderheiten aufweist Verbleiben die Menschen dort doch grundsätzlich nur für einige Wochen. Es ist also viel schwerer an sie heranzukommen und mit unseren Maßstäben des Zusammenlebens vertraut zu machen.
Die Schaffung einer EAE war für Neustadt eine besondere Herausforderung. Wir vor Ort haben diese aber in den vergangenen drei Jahren insgesamt gut gemeistert. Dies wird uns von vielen Außenstehenden immer wieder bestätigt.
Seinerzeit habe ich den Ministerpräsidenten schriftlich und im persönlichen Gespräch daran erinnert, dass Neustadt mit der EAE eine besondere Aufgabe für das ganze Land wahrnehme. Daher sei es angezeigt, dass das Land die Kommune auch in besonderer Weise unterstütze.
Dies ist geschehen und wird auch weiterhin fortgesetzt. Gerade die Aufnahme in das Städtebauförderungsprogramm Soziale Stadt ist ein großer Vorteil für Neustadt. Ohne die daraus erwachsenden Mittel können wir kein neues Kultur- und Bürgerzentrum errichten, gäbe es keine neuen Spielplätze in den Wohnquartieren Leipziger Straße und Emil-Rössler-Straße und ab 2019 In der Aue oder eine Umgestaltung des Bürgerparks. Bei dieser werden wir übrigens auch Aspekte zur Steigerung des Sicherheitsgefühls beachten.
Ohne die deutlich erhöhten Einwohnerzahlen 2015/16 könnten wir nicht die Sanierung des Freibades angehen. Auch die Schaffung eines Kunstrasenplatzes muss in diesem Zusammenhang genannt werden. Von all diesen investiven Maßnahmen profitieren im Ergebnis alle Bewohner unserer Heimatstadt.
Erinnert sei auch an die geschaffenen Arbeitsplätze und die wirtschaftlichen Außenwirkungen durch die EAE sowie die Tatsache, dass aufgrund der nun erhöhten Einwohnerzahlen seit 2015 keine Erhöhung der Grundsteuer mehr vorgenommen werden musste. Ein Vorteil für alle Grundstückseigentümer und Mieter.
Nochmals: Wir haben uns als Kommune nicht um die EAE beworben. Wir können sie auch nicht – wie jetzt bei „Facebook“ gefordert – einfach schließen (lassen). Wir gestalten nicht die Flüchtlingspolitik. Wir müssen auf örtlicher Ebene – so wie wir es seit 2015 tun – pragmatisch mit dem Sachverhalt umgehen.
Obiges dürfen wir meines Erachtens nicht vergessen, wenn wir die gegenwärtige Situation bewerten. Selbstverständlich ist dies kein Freibrief für Straftaten wie am 30. August 2018 oder wenige Wochen zuvor bei einem Raubüberfall. Das ist ein „no go“ und muss natürlich geahndet werden.
Die Stadt Neustadt (Hessen) wurde von der Landesregierung bewusst in die Sicherheitsoffensive Kompass aufgenommen. In den kommenden Wochen und Monaten werden wir die Situation vor Ort analysieren und nach Lösungen suchen. Mein Ziel ist es etwa, wieder einen Schutzmann vor Ort zu installieren.
Sie können versichert sein, dass ich mich – wie auch in der Vergangenheit – ihrer Sorgen und Nöten annehme und diese gegenüber den zuständigen Stellen des Landes artikuliere. So habe ich etwa darauf gedrungen, dass der Flüchtling, der die Straftat am 30.8. begangen hatte, unverzüglich in eine andere EAE verlegt wurde.
Die Verantwortlichen in Wiesbaden und Berlin müssen wissen, wie die Lage vor Ort ist. Darüber zu unterrichten, sehe ich als eine meiner Aufgaben an.
Erwarten Sie aber nicht, dass ich Dinge verspreche oder fordere, die unrealistisch sind oder nicht mit den Gesetzen im Einklang stehen. Wir wurden bisher als seriöse und verantwortungsvolle Gesprächspartner wahrgenommen und so soll es auch bleiben.
Es ist meine Überzeugung, dass wir vor Ort auch zukünftig alles daran setzen müssen, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Manche Parole verspricht zwar eine schnelle Lösung, die Realität sieht aber anders aus.
Ich bin dankbar dafür, dass den eingeschlagenen Weg alle in der Kommunalpolitik Verantwortung tragenden Akteure bisher ohne Ausnahme mitgetragen haben. In meinen Augen ist er vor Ort ohne Alternative und dürfte nach meiner Wahrnehmung auch von der Mehrheit der Bürgerschaft akzeptiert werden.
Es sind eben nicht „die Flüchtlinge“, die Straftaten begehen und für Unruhe sorgen, es sind einige wenige. Wir dürfen nicht verallgemeinern, sondern müssen objektiv bleiben und dürfen nicht ausblenden, dass auch Geflüchtete Opfer von Gewalt werden.
Wir müssen uns zu unserer Werteordnung bekennen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier führte in der eingangs erwähnten Rede zum „Tag der deutschen Einheit“ im vergangen Jahr weiter aus:
„Unser Grundgesetz garantiert den Schutz vor politischer Verfolgung, aus gegebenen, in Deutschland auch historischen Gründen, an die wir uns erinnern. Doch wir werden den politisch Verfolgten nur dann auch in Zukunft gerecht, wenn wir die Unterscheidung darüber zurückgewinnen, wer politisch Verfolgter oder wer auf der Flucht aus einer wirtschaftlichen Notlage ist.“
Man kann die Geschehnisse in einer kleinen Kommune nicht vom großen Ganzen trennen. Die Politik in Berlin muss – so wie es Wolfgang Bosbach sagt – zum Teil Kurskorrekturen vornehmen. Die Zahl der sicheren Herkunftsländer muss ausgeweitet werden, dazu ist es aber auch notwendig, dass die Entwicklungshilfepolitik geändert und Sorge dafür getragen wird, dass die Menschen in ihren Heimatländern eine Perspektive haben, dass dort demokratische Bestrebungen gefördert werden. Auch kommen wir nicht umhin, über eine vernünftige Einwanderungspolitik nachzudenken. Uns fehlen in Zukunft Arbeitskräfte, darauf muss Politik auch reagieren.
In der Vergangenheit galt bei uns in Neustadt, dass wir Positives wie Negatives offen ansprechen, dass wir objektiv informieren und bewerten. Daran werden wir auch weiterhin festhalten.
Mit freundlichen Grüßen
Thomas Groll
Bürgermeister