Gedenkveranstaltung der 80. Wiederkehr der Pogromnacht vom 8. November 1938 - „Ein solcher Ungeist darf nicht wieder Platz greifen in unserem Land.“
Seit 1513 gab es in Neustadt eine jüdische Gemeinde. In Momberg lassen sich Juden seit 1731 nachweisen. 1933 – als die Nazi-Herrschaft in Deutschland begann – lebten in beiden Orten insgesamt 120 Menschen jüdischen Glaubens. Bis zum 30. Januar 1933, dem Tag der Machtergreifung durch Hitler, waren sie Nachbarn, Freunde, Sportskameraden. Im I. Weltkrieg hatten einige von ihnen für ihr Heimatland gekämpft. Danach verschlechterte sich ihre Situation immer mehr. Es begannen Missachtung und Entrechtung. Wer konnte, wanderte aus.
Einen Tag früher als in den meisten Städten und Gemeinden des Deutschen Reiches fand in zahlreichen nordhessischen Kommunen - so auch in Neustadt und Momberg – bereits am 8. November 1938 die Pogromnacht statt. Die Einrichtung der Synagoge in der Marburger Straße wurde ebenso geschändet und zerstört wie die des Betsaales in der Burgasse.
1941 schließlich wurden die letzten Juden aus Neustadt und Momberg in die Konzentrationslager deportiert. Alle jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger verloren seit 1933 Schritt für Schritt ihr Eigentum, etlichen gelang die Ausreise, aber siebzig Frauen, Männer und Kinder fanden einen qualvollen Tod.
An die Geschehnisse der Pogromnacht erinnerte die Stadt Neustadt (Hessen) am 8. November 2018 mit einer Gedenkveranstaltung im Historischen Rathaus. Diese wurde von Stefan Groll, dem Fachbereichsleiter Musik der Martin-von-Tour-Schule, mit George Gershwins „Summertime“ eingeleitet. Damit, so Stefan Groll, wolle er einen „Kontrapunkt“ zum damaligen Geschehen setzen. Gershwins Jazzmusik habe bei den Nazis als „entartet“ gegolten. Sie stehe u.a. für Freiheit und Leichtigkeit. Bürgermeister Thomas Groll hieß die über siebzig Anwesenden willkommen. Sein besonderer Gruß galt dem Kreistagsvorsitzenden Detlef Ruffert, der Kreisbeigeordneten Sigrid Waldheim, den Ehrenbürgern Stadtallendorfs und Kirchhains Manfred Vollmer und Willibald Preis, Ehrenstadtrat Ludwig Dippel und Pfarrer Andreas Rhiel sowie Stadtverordnetenvorsteher Franz-W. Michels und Erstem Stadtrat Wolfram Ellenberg.
Der Bürgermeister erinnerte eingangs daran, dass sich die Fraktionen der Stadtverordnetenversammlung dafür ausgesprochen hätten, die geschichtliche Aufarbeitung der Jahre 1933-1945 voranzutreiben, da diese bisher weitestgehend unterblieben sei. Gegebener Anlass hierfür sei das 750-jährige Stadtjubiläum 2022.
Als gelungen bezeichneten die Anwesenden im Nachgang der Veranstaltung die Idee des Bürgermeisters, einen Ausschnitt aus der bedeutsamen Rede Richard von Weizsäckers zum 8. Mai 1985 einzuspielen. Der Bundespräsident hatte zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes auch passende Worte zur Judenverfolgung im 3. Reich gefunden.
Thomas Groll selbst stellte fest, dass es ihm schwergefallen sei, dass Unfassbare in Worte zu fassen. Einen Gedanken von Weizsäckers aufgreifend stellte er fest, dass es auch in Neustadt und Momberg Gehilfen und Täter des verbrecherischen Regimes gegeben habe, die schuldig geworden seien. Über „die breite Masse“, die sicher etwas geahnt und wohl auch weggesehen habe, wolle er sich in der Nachschau kein Urteil erlauben, denn dies sei ungerecht. „Wie hätten wir uns denn verhalten? Hätten wir in einer Diktatur widerstanden? Die Beantwortung dieser Fragen fällt uns schwer. Eines ist aber klar, ein solcher Ungeist darf nie wieder herrschen. Es ist unsere Aufgabe, das Geschehene nicht zu vergessen und die richtigen Lehren daraus zu ziehen. Tun wir das nicht, dann werden wir schuldig“, so der Bürgermeister in mahnenden Worten.
Als Zeichen der Erinnerung und Trauer und einem jüdischen Brauch folgend legte Thomas Groll stellvertretend für alle Bürgerinnen und Bürger Kieselsteine vor einer brennenden Kerze nieder.
Monika Bunk, die stellvertretende Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Marburg, richtete sich ebenfalls an die Anwesenden. Sie begrüßte, dass sich die Kommune ihrer Geschichte stelle und auch die dunklen Seiten aufarbeiten wolle. Monika Bunk verwies darauf, dass es immer noch Antisemitismus in Deutschland gebe und sich dieser in jüngster Zeit verstärkt habe. Als Beleg dafür nannte sie 18 Taten, die alleine von Januar bis November in Nordhessen und dem Landkreis Marburg-Biedenkopf geschehen seien. Sie forderte dazu auf, wachsam zu sein und aktiv gegen solche Erscheinungen vorzugehen, die man nicht verharmlosen dürfe. Gefordert sei Toleranz und ein gutes Miteinander.
Fünf Schülerinnen und Schüler der Martin-von-Tours-Schule wirkten ebenfalls an der Gedenkveranstaltung mit. Larissa Schenk 9a, Milan Neda 9a, Charline Kirchner 9a, Thea Eckhardt 9b, Leonie Feil 9b sprachen über „Schule gegen Rassismus – Schule mit Courage“, „Was ist Rassismus“, „Die jüdische Gemeinde Neustadt“, „Jüdische Familien“ und „Der jüdische Friedhof zwischen Neustadt und Momberg“. Die Anwesenden zeigten sich von den Vorträgen beeindruckt. Die Jugendlichen verknüpften durch die Themenwahl Vergangenheit und Gegenwart. Sie wurden im Vorfeld von der Lehrerin Grit Adams betreut.
Nachdem Stefan Groll die „Hommage an Caprice Nr. 5“ auf der Gitarre gespielt hatte, befasste sich Prof. em. Dr. Jürgen Reulecke in seinem Vortrag mit „Erinnerungskulturen“. Der emeritierte Hochschullehrer war Professor für Neuere und Neueste Geschichte in Siegen und Gießen. An der Justus-Liebig-Universität baute er den Sonderforschungsbereich „Erinnerungskulturen“ auf.
Reulecke verwies darauf, dass die Erinnerung an die Gewaltherrschaft in der Adenauer-Ära (1949-1963) quasi nicht stattfand. Damals sei das Geschehen noch zu nah gewesen und anderes, wie etwa der Wiederaufbau, hätte im Mittelpunkt gestanden. Dies habe sich dann im Zuge der 68er-Bewegung geändert. In den 1970er Jahren sei die Aufarbeitung der NS-Herrschaft dann vorangeschritten und die Rede Weizsäckers zum 8. Mai sei für diesen Prozess von besonderer Bedeutung „Nur wer sich richtig erinnert, der kann aus dem Geschehenen seine Lehren für die Zukunft ziehen“, so der Historiker. Daher habe man in den 1900er Jahren an der Gießener Universität den Sonderforschungsbereich „Erinnerungskulturen“ aufgebaut.
Prof. em. Dr. Jürgen Reulecke setzte sich auch kurz mit dem Begriff „Heimat“ auseinander. Dieser sei, richtig verstanden, durchaus etwas Gutes. Jeder Mensch brauche eine Heimat. Es bestünde aber immer wieder die Gefahr, dass Heimat falsch interpretiert werde. Man dürfe dieses Wort nicht dazu missbrauchen, sich abzuschotten und andere auszugrenzen.
Mit einer würdigen Veranstaltung setzte man sich mit der Pogromnacht 1938 auseinander und begann damit auch die Aufarbeitung der Stadtgeschichte. Bürgermeister Thomas Groll verwies abschließend darauf, dass dieser Prozess nicht einmalig bleiben dürfe.