Zeitgeschichtliche Veranstaltungsreihe - Die Siedlung "Steimbel" in der Zeit der NS-Herrschaft
Am 20. September 2023 wurde die zeitgeschichtliche Veranstaltungsreihe der Stadt Neustadt (Hessen) mit einem Vortrag zur regionalen Geschichte im Kultur- und Bürgerzentrum fortgesetzt. Hierzu konnte Bürgermeister Thomas Groll rund 130 interessierte Zuhörerinnen und Zuhörer begrüßen.
Das Thema des Abends lautete „Die Geschichte der Siedlung „Steimbel“ in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft“. Referent war Dr. Jörg Probst, der Leiter des Dokumentations- und Informationszentrums (DIZ) im benachbarten Stadtallendorf.
Das DIZ wurde bereits 1994 gegründet und ist die erste und somit älteste Gedenkstätte in Deutschland über Zwangsarbeit. Als Einrichtung der politischen Bildung erinnert das DIZ an die Ausbeutung von bis zu 20.000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in den 1938 errichteten Sprengstoffwerken der DAG und WASAG bei Allendorf, den damals größten Sprengstoffwerken in Europa und an den Umgang mit dem NS-Erbe in dem Ort und der Region nach 1945.
Dr. Jörg Probst, studierter Kunsthistoriker, leitet das DIZ seit 2020 und ist seitdem bestrebt Kontakt auch zu den Nachbarkommunen zu pflegen.
In seinen einleitenden Worten verwies Thomas Groll darauf, dass sich die Stadt Neustadt (Hessen) seit einigen Jahren auch mit den Geschehnissen während der NS-Herrschaft von 1933-1945 vor Ort befasse. „Geschichte kann man nicht dauerhaft verdrängen, man muss sich ihr stellen“, so der Bürgermeister. Die Nationalsozialisten seien am 30. Januar 1933 nur deshalb an die Regierung gekommen, so Groll weiter, weil es in der Weimarer Republik ab 1919 zu wenige überzeugte Demokraten gegeben habe. „So etwas darf nie mehr in Deutschland passieren. Wir alle sind aufgefordert, uns aktiv zum demokratischen Staat zu bekennen und uns für das Gemeinwesen zu engagieren“, betonte Neustadts Stadtoberhaupt.
„Die Konzentrationslager, das Gefängnis Plötzensee, Hinrichtungsstätte der Attentäter vom 20. Juli 1945, das Lager Münchmühle bei Allendorf und auch der Steimbel sind zunächst einmal geschichtliche Orte, geprägt vom NS-Staat. Heute sind sie allesamt auch Orte der Demokratiebildung“, betonte Dr. Jörg Probst.
Mit dem Bau der Siedlung „Steimbel“ wurde 1939 begonnen, die offizielle Einweihung erfolgte am 1. Mai 1941. Zu dem Zeitpunkt waren aber bereits einige Gebäude bewohnt. Zur Siedlung gehörten verschiedene Gemeinschaftsräume, wie etwa der heute noch vorhandene Theatersaal, eine Großküche, Sanitätsgebäude und 17 Wohngebäude a 4 Wohnungen und 6 Wohngebäude a 6 Wohnungen. Die dort untergebrachten Menschen, Deutsche und Zwangsarbeiter, zumeist aus Westeuropa, arbeiten in Allendorf für die WASAG, die Westfälisch-Anhaltinische Sprengstoff Actien-Gesellschaft. Zeitweise lebten am „Steimbel“ rund 800 Menschen. Anders als beispielsweise das Lager „Wasserscheide“ handelte es sich um eine relativ „freie“ Unterkunft ohne große Bewachung. Was natürlich nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass Frauen und Männer aus den Niederlanden, Frankreich und anderen Staaten nicht freiwillig dort waren. Die Menschen wurden mit Bussen in die Nachbarkommune zu ihren Arbeitsorten gebracht.
Die Siedlung wurde in typischer NS-Architektur mit nordischen Steildächern errichtet. Der Theatersaal, der auch als Kantine für die Deutschen diente, ereignete sich nach den Worten von Dr. Probst am 8. März 1945 etwas Unglaubliches: die Niederländerin Johanna Freequin besaß den Mut, auf einem Klavier die englische Nationalhymne zu spielen. Ein Aufbegehren gegen die Machthaber, ein Zeichen der Freiheit. „Auch das Lager „Steimbel“ war wie so viele andere Stätten auch ein Ort der Zivilcourage, des Mutes und der Fantasie“, hob der Referent hervor. Dr. Jörg Probst regte an, mit einer Gedenktafel an die Geschichte der Siedlung zu erinnern.
Ein Gedanke, den Bürgermeister Thomas Groll in seinem Schlußwort aufgriff und die Umsetzung spontan zusagte. Neben der Zeit bis 1945 solle dabei dann auch an die Nachkriegszeit und das Wirtschaftswunder erinnert werden. Groll kündigte an, die zeitgeschichtliche Veranstaltungsreihe auch 2024 mit prominenten Gästen fortzusetzen.
Der Abend endete mit dem nachfolgend abgedruckten Gedicht, dass der Verfasser Joachim Wermann vortrug:
Ein Stück Zeitgeschichte vom „Steimbel“ in Neustadt
Im Jahre 1949 nach der schlimmen NS- und Kriegszeit war der „Steimbel“ in Neustadt für ein friedliches Miteinander bereit.
Es siedelten sich Betriebe aus verschiedenen Branchen an. Diese brachten auch Fachpersonal mit heran.
Der „Steimbel“ bot sich an für Betriebe und als Wohnsiedlung, es begann bald die Produktion mit Arbeit und Brot für die ganze Region.
Die Betriebe und Bevölkerung setzen sich zusammen aus Böhmen, Thüringen sowie Schlesien, Ostpreußen und Sachsen, sie ließen die Stadt Neustadt in der Einwohnerzahl wachsen.
Für die Betriebe als Personal nicht zu vergessen, die Einheimischen aus Neustadt und Nordhessen.
Die Firmen der einzelnen Branchen waren:
Strick-Handschuhe Fa. Michael Lohs
Werkzeuge Fa. Holland-Letz
Hausschuhe sowie Schuhzubehör Fa. Mühlhans
Trikotagen-Damenunterwäsche Fa. Höger
Damenstrümpfe, Kindersöckchen- und Kniestrümpfe sowie Herrensocken und Pullover für Kinder und Erwachsene der Fa. ERGEE.
In einem Teil vom „Steimbel“ gab es zu dieser Zeit die Hessische Landvolkhochschule. 1961 zog sie in den Taunus, da war eine neue Schule dafür gebaut und einzugsbereit.
Für die am „Steimbel“ ansässigen Firmen war dieses willkommen, die Gebäude wurden als Wohnungen für ihre Angestellten genommen.
Zu dieser Zeit auch der Gastarbeiterboom begann und man hatte für sie gleich Unterkunft dann.
Es war auch eine Gastwirtschaft und Lebensmittel-Laden vor Ort, es wurde viel gekauft und getrunken dort. Wurde Essen und Trinken genannt, hieß es, wir gehen zum Faber Ernst, das war bekannt.
1952 bin ich als 16-jähriger, wie viele Landsleute aus dem Erzgebirge, nach Neustadt zu ERGEE gekommen, wir haben als Zeitzeugen aktiv an der Entwicklung des „Steimbels“ in diesen Jahren teilgenommen.
Es war eine schöne Zeit gegen heute, nicht so reich, aber ich möchte sie nicht missen.
Der „Steimbel“ war die zweite Heimat, uns ging es allen gleich.
Unsere Kinder schwärmen noch heute, inzwischen sind sie erwachsene Leute.
Wir haben keinen Kindergarten vermisst, wenn man am „Steimbel“ mit zahlreichen Nachbarskindern aufgewachsen ist.
Unvergessen sind die alljährlichen Kinderfeste, die die Fa. ERGEE zusammen mit Helfern bot,
für die Kleinen das Beste.
Zum Schluss sei noch folgendes genannt:
Die Bezeichnungen „Am Steimbel“ bei Jung und Alt noch heute bekannt, obwohl seit 1976 nach dem Ehrenbürger von Neustadt in Emil-Rössler-Straße umbenannt.
Fotos: Stadt Neustadt (Hessen)